September 2016. Schon lange war es geplant, dann treffen mein Bruder und ich kurzfristig die Entscheidung: Wir fahren mit dem Fahrrad an die Ostsee! Das Wetter spielt laut Vorhersage mit. Vor uns liegt eine Woche mit Sonne und sommerlichen Temperaturen. Die Route? Vielleicht Richtung Greifswald über den Radweg Berlin-Kopenhagen. Doch dann kommt alles anders.
Am Vorabend besuchen wir noch auf einer Gartenparty. Es gab Bier und Wodka. Irgendwie war da schon klar, dass wir am nächsten Morgen nicht wirklich früh starten würden. Wir sind spät dran und müssen auch zuerst noch einen Fahrradschlauch wechseln. An der Tankstelle bekommen die Reifen ordentlich Druck. Dann laden wir die Fahrräder in die S-Bahn und lassen uns bequem bis Oranienburg mitnehmen. Der Himmel ist grau, der Kopf matschig. Als wir aus der S-Bahn steigen, kaufen wir vorsichtshalber vier Dosen Bier und fahren grob Richtung Norden. Eine Karte haben wir nicht, nur einen kleinen Kompass für den Fahrradlenker. Nach zehn Minuten machen wir Halt und nehmen erstmal ein Mittagessen ein. Dazu gibt es für jeden zwei Bier. Die Laune steigt, die Reisegeschwindigkeit sinkt. Aber irgendwie schaffen wir es auf den Berlin-Kopenhagen Radweg. Der ist schön ausgebaut und anfangs sehr gut ausgeschildert. Die Strecke ist gut asphaltiert, und wir gleiten nur so dahin. Zwischendurch halten wir mal an und zischen ein Bierchen. Wir wollen uns ja nicht hetzen, sondern etwas von der Natur mitbekommen. Übrigens: Die Kühltaschen aus der Tiefkühlabteilung halten die Getränke lange kalt und nehmen kaum Platz weg.
Langsam wird es Nachmittag und wir schauen auf dem Smartphone nach, wo noch erreichbare Campingplätze liegen. Gute Planung geht anders. Aber man muss auch mal improvisieren können. Wir radeln also so am Döllnfließ parallel zur Havel in Richtung Zehdenick. Berlin liegt gefühlt schon weit hinter uns. Von einer Minute auf die andere wird es dunkel. Dicke Wolken ziehen auf, in nicht all zu weiter Ferne rumpelt es auch schon. Sicherheitshalber ziehen wir schon mal unsere Regensachen an. Wobei erwähnt werden muss, dass wir beide jeweils ganz elementare Bestandteile vergessen haben. Mein Bruder hat einen alten Bundeswehrponcho, aber keine Regenhose. Dafür hat er aber die Regenstulpen für seine Schuhe gefunden. Dass ich nicht gründlicher nach meinen gesucht habe, wird sich bald schon als grober Fehler herausstellen. Keine zehn Minuten später öffnet der Himmel auch schon seine Schleusen und weit und breit gibt es keine Möglichkeit sich unterzustellen. Es blitzt und donnert. Die Einschläge kommen immer näher. Plötzlich fällt mir ein, dass mein Bruder seinen Schlafsack nicht wasserdicht verpackt hat. Wir halten also an, während sich der Regen Eimerweise über uns ergießt und stopfen den Packsack schnell in einen großen, blauen Müllbeutel. Meine Schuhe sind völlig durchnäßt, ich stehe quasi in meinen Schuhen in kleinen Pfützen. Trotzdem haben wir die leise Hoffnung, dass sich der Schlafsack nicht schon komplett mit Wasser vollgesogen hat.
In Zehdenick angekommen suchen wir Schutz unter einem kleinen Vordach eines Wohnhauses und checken noch einmal Google Maps. Der nächste Campingplatz scheint viel zu weit entfernt zu sein. In einem kleinen Tante Emma Laden kaufe ich neues Bier und hinterlasse große Wasserlachen auf dem Boden. Die Verkäuferin versucht verzweifelt sich an einen Campingplatz in der Nähe zu erinnern, aber ihr will nichts einfallen. Also radeln wir weiter. Kurz hinter Zehdenick sehen wir am Fahrradweg ein kleines, vielversprechendes Schild: Kanustation, rechts abbiegen. Darunter ein Symbol, das auf einen Zeltplatz hoffen lässt. In der Wilden Heimat angekommen treffen wir eine Gruppe Floßwanderer aus Bayern, die es sich auf Bierbänken unter einem kleinen Dach gemütlich gemacht haben und ein paar Flaschen Bier kippen. Ihr Dialekt ist so stark, dass die Kommunikation eher mühsam ist. Ansonsten ist der Zeltplatz verlassen. Vorne am geschlossenen Kiosk finden wir eine Handynummer des Betreibers. Wir dürfen über Nacht bleiben und können am nächsten Tag die Rechnung bezahlen. Außerdem gibt er uns den Tipp, dass es um die Ecke eine kleine Wiese gibt, über der ein Tarp gespannt ist. Dort finden wir Schutz vor dem Regen und können uns bequem trockene Sachen anziehen, der Schlafsack von meinem Bruder ist auch trocken geblieben. Das Nachtlager ist schnell errichtet und wir sind froh, dass wir noch Bier haben. Mit dem Benzinkocher zaubern wir uns noch eine große Portion Nudeln. Dann sind wir glücklich.
Am nächsten Tag werden wir von einem Kreischkonzert geweckt. Ich kann nicht wirklich einordnen, woher das kommt. Alle fünf Minuten verstummt es, begleitet von einem Wuuuuusch. Neugierig verlasse ich das Zelt und sehe einen riesigen Schwarm Stare, der sich auf dem Stromleitungen über uns niedergelassen hat. Glücklicherweise hatten wir ein Tarp über dem Zelt, sonst wären wir im wahrsten Sinne des Wortes angeschissen gewesen.
Es nieselt noch eine ganze Weile, aber wir machen ein paar Meter. Wir schaffen es bis Fürstenberg an der Havel. Das ist auf direktem Wege etwa 30 Kilometer entfernt. Weil wir aber keine Karte haben und uns eigentlich nur nach dem Kompass richten, brauchen wir etwas länger. Wir kommen vom Weg ab und fahren teilweise für Fahrräder ungeeignete Strecken an halsbrecherischen Abhängen entlang. Zwischendrin müssen wir noch die ein oder andere Pause einlegen, weil es wieder regnet. Am frühen Nachmittag erreichen wir unser Tagesziel: Den Campingplatz am Röbbelinsee. Inzwischen haben sich die Wolken verzogen und wir haben einen traumhaften Sonnenuntergang. Ein Dauercamper vor Ort erlaubt uns auf der Terrasse von seinem Hausboot zu sitzen mit Blick auf den See. Wir trinken noch ein paar Bier und freuen uns über das schöne Wetter. Die Nacht ist klar und voller Sternen-schnuppen. Mein Bruder und ich sind beeindruckt.
Tag 3. Wir packen unsere Sachen und erleben eine unangenehme Überraschung: Das Hinterrad von meinem Bruder hat einen Platten. Schon wieder. Den Schlauch hatten wir gerade vor der Abfahrt gewechselt. Der See hilft uns bei der Suche nach dem Loch im Schlauch und die Sonne wärmt uns ganz herrlich, während wir das Rad Flicken. Inzwischen haben wir anscheinend den Fernradweg gewechselt und befahren den Mecklenburgischer Seen Radweg. Unser nächstes Ziel ist eigentlich Neubrandenburg, etwa 60 Kilometer entfernt. Auf dem Weg dorthin landen wir irgendwie auf dem Radweg Berlin-Usedom. Bis Neubrandenburg schaffen wir es jedenfalls nicht. Tatsächlich müssen wir am späten Nachmittag ein Stück in Richtung Süden fahren, um einen Campingplatz zu erreichen. Die Gegend zwischen Fürstenberg und Neubrandenburg bietet fast keine Alternativen. Südlich von Grünow müssen wir noch einen sehr langen, sehr steilen Berg hochstrampeln, aber dafür ist der Campingplatz auch ein Traum: Auf einem großen Bauernhof stehen Planwagen herum, die in kleine Bettenburgen umfunktioniert wurden. Es sieht aus wie bei Winnetou! Auch hier haben wir wieder Glück mit dem Wetter. Es ist sonnig und schön warm. Das Abendrot verwandelt den Himmel in ein feuriges Gemälde, das wie ein Crescendo von Minute zu Minute immer spektakulärer wird.
Am vierten Tag unserer Reise haben wir den Wettergott weiter auf unserer Seite und erreichen schließlich Neubrandenburg. Am alten Stadttor belohnen wir uns mit einem Grillteller und Bier. Schnell sind wir uns einig, dass wir nicht mehr sehr viel weiter fahren wollen. Am Tollensesee wartet der nächste Campingplatz auf uns. Allerdings warnt uns Google Maps nicht davor, dass wir vorher wieder ein paar unmenschliche Steigungen überwinden müssen. Wir freuten uns aber insgeheim darüber, dass wir dafür am nächsten Tag viel Talfahrt vor uns hätten. Aber es sollte sowieso wieder alles anders kommen. Der Weg zum Campingplatz am Tollensesee führt über eine la-a-a-a-a-a-a-ange Kopfsteinpflasterstraße, aber immerhin steil bergab. Dass wir den Weg wieder zurückfahren müssten, verdarb uns ein wenig die Laune. Dafür bekamen wir einen sensationellen Platz für unser Zelt. Direkt am Wasser und nur wenige Meter von der Bier-Nachschub-Station entfernt. Dazu ein Sprung ins kühle Nass und die Laune war wieder ganz oben!Mein Bruder fand derweil heraus, dass es neben dem Zeltplatz eine Anlegestation für eine Personenfähre gibt. Die setzt einen zwar wieder ein Stück vor Neubrandenburg ab, eliminiert aber dafür auch das steile Streckenstück mit dem Kopfsteinpflasterberg.
Tag 5. Wir fahren weiter in Richtung Usedom, was ganz woanders liegt als Greifswald, wo wir ursprünglich hinwollten. Außerdem vertüddeln wir uns wieder ganz ordentlich bei der Route und fahren teilweise abenteuerliche Wege durch Wälder und Wiesen. In einem kleinen Kaff abseits der eigentlichen Strecke machen wir Rast und öffnen eine Dose Ravioli. Die kann man hervorragend kalt essen! Wir spüren mittlerweile unsere Beine und die Sonne, die uns den ganzen Tag auf den Pelz gebrutzelt hat. Inzwischen fahren wir direkt auf den schmalen Landstraßen, die rechts und links mit Bäumen und in der Mitte mit Schlaglöchern übersät sind. Die rasenden Autofahrer sorgen regelmäßig für Spannung. Und wieder sind wir in der Situation, dass es weit und breit keinen Campingplatz zu geben scheint. Der nächste sei am Achterwasser auf Usedom. Das scheint uns eindeutig zu weit. Also schmieden wir einen Plan: Wir nehmen uns vor bis nach Anklam zu fahren. Dort setzen wir uns in einen Biergarten und kippen ein paar Blonde. Und dann fahren wir entweder noch bis Usedom oder hauen uns irgendwo in die Walachei. Wir mögen den Plan. Aber es kam schon wieder anders. Wenige Kilometer hinter dem Ortseingang von Anklam stolpern wir über ein Straßenschild mit einem Zeltsymbol. Ein Wasserwanderrastplatz direkt am Wasser, und der Hafenmeister hat auch eine kleine Wiese für Zelte. Wieder einmal Glück gehabt!
Tag 6. Und täglich grüßt das Murmeltier… Mein Bruder hat schon wieder einen Platten. Es ist wieder das Hinterrad. Im Mantel ertasten wir keine Nägel, Scherben oder Dornen. Also wird wieder geflickt. Aber wir haben Ostseewetter, die Sonne scheint und wir wissen: Heute erreichen wir die Ostsee! Die Strecke fängt gut an. Sehr eben, guter Asphalt, eine kleine Brise. Was wir nicht geahnt haben: Auf Usedom gibt es jede Menge steile Berge auf dem Radweg, die unsere Motivation kurz vor dem Ziel noch einmal auf eine harte Probe gestellt haben. Mein Bruder hat da bis heute noch eine Rechnung mit dem verantwortlichen Planer offen. Aber letzten Endes haben wir es am sechsten Tag geschafft. Der Campingplatz in Ückeritz erinnert zwar stark an einen Boulevard wie den Kurfürstendamm, liegt dafür aber direkt am Strand!