Vor dem Ziel umkehren kann auch schön sein

Da stehe ich nun, mitten im Skigebiet. Die Sonne ist gerade aufgegangen und versucht sich allmählich durch die Wolken zu kämpfen. Weit und breit ist niemand zu sehen. Wäre es Winter, würden jetzt die Pistenraupen rumpeln, um die Abfahrten für den kommenden Tag zu präparieren. Doch es ist Spätsommer und deshalb bin ich um 5.15 Uhr für heute der erste am Berg.

Allein aufs Kleine Gurpitscheck

Ich bin im Salzburger Lungau unterwegs und habe mir für eine schnelle Solo-Tour das Kleine Gurpitscheck (2.378 Meter) vorgenommen. Ich starte von der Talstation des Skigebiets Fanningberg (1.489 Meter). Da der Fanning direkt gegenüber unserer Unterkunft in Weißpriach liegt, habe ich nur rund sieben Kilometer Anreise, der größte Teil ein typischer Serpentinenweg den Hang hinauf. Auf Ratschlag unserer Wirtin Gusti wähle ich diese Variante und wandere nicht den „Normalweg“ von Hinterweißpriach über die Karneralm. Damit spare ich Höhenmeter und vermeide laut Gusti eine „Hatscher“ über langgezogene Forststraßen.

Vom Parkplatz aus muss ich zunächst ein Stück die Piste hoch, dann in einem weiten Bogen auf einen Kamm auf knapp über 2000 Meter und kann danach genussvoll mit wenig Höhenunterschied laufen bis zum finalen großen Anstieg. Mein frühmorgendlicher Aufbruch lässt mir für den Rest des Tages noch Zeit für die Familie und bietet einen Hauch von Abenteuer.

Wie schon bei anderen ähnlichen Solo-Touren versuche ich Tempo zu machen. Und wie so oft gehe ich etwas zu schnell los und merke diesmal bald, dass die Kondition nicht auf Topniveau ist. Bereits nach wenigen Minuten macht sich ein kleiner Nachteil an dieser Strecke bemerkbar: Das Kleine Gurpitscheck ist nicht ausgeschildert und meine Kartenmaterial ist sehr bescheiden. Wie viele andere Skigebiete versucht auch der Fanning, sich als sommertaugliches Areal zu präsentieren. So gibt es viele Markierungen für diverse Rundwege, die mich mehr verwirren als dass sie mir helfen. Auch die überaus häufigen Schilder zur Zirmbar geben mir einige Rätsel auf. Ich kenne das Gebiet nämlich auch vom Winter und hätte gedacht, dass diese Lokalität ganz woanders liegt. Trotz aller kleinen Schwierigkeiten bin ich relativ zügig auf der Piste unterwegs und kann diese auf eine angenehm zu wandernde dicht bewachsene Forstraße verlassen. Jetzt gibt es zwar (außer zur Zirmbar) gar keine Schilder mehr, aber die Richtung stimmt auf jeden Fall. Der Wald lichtet sich, ich komme in Almgelände und sehe, dass mich nur noch rund 100 Höhenmeter vom erstrebten Kamm trennen. Nach etwa 15 Minuten bin ich dort, der Blick zum Kleinen Gurpitscheck ist durch kleinere Erhöhungen noch verdeckt. Bisher ist das Wetter durchwachsen, die Sonne scheint ihren Kampf gegen die Wolken verloren zu haben. Das erhoffte erhebende Gefühl der frühen Sonnenstrahlen fehlt mir. Umso mehr freut mich der Anblick auf dem Kamm. In rund 20 Kilometern Entfernung Richtung Obertauern ist ein Sonnenloch in der Wolkendecke und strahlt eine Gruppe von Kalkbergen an. Danach muss ich mich auf den schmalen Pfad konzentrieren. Dieser ist zwar nie richtig schwierig oder gefährlich, aber es geht durchaus mit Gefälle und ohne größere Stufen im Gelände 1.000 Meter bis ganz nach unten ins Taurachtal. Letztlich ganz harmlos, aber bei Querungen in solchem Gelände bin ich immer angespannt. Gedanklich melde ich mich für den Kurs „Locker auch im Gras-Steilhang“ an.  

Lichtblicke in der Ferne

Mental war ich auf reinen Genuss bis zum letzten Anstieg eingestellt und ich muss mich erst auf das etwas anspruchsvollere Gehen einstellen. Kurz steigt meine Stimmung als ich endlich den Gipfel des Kleinen Gurpitscheck vor mir sehe. Prächtig steht er da, im Hintergrund ist schon sein höherer Bruder der Große Gurpitscheck zu sehen. Dieser ist über ein wildes langgezogenes Felsband verbunden mit dem Karnereck und bildet eine prächtige hochalpine Kulisse für das letzte Drittel meiner Tour. Doch ich merke, dass ich zeitlich in Verzug bin. Meine persönliche Vorgabe von zwei Stunden bis zum Gipfel war zwar eine ziemlich willkürliche Schätzung, dennoch wirft es mich zurück, dass ich dies auf keinen Fall schaffen werde. Die Gedanken kreisen: das schlechter als vorhergesagte Wetter, meine neuen Schuhe, die viel leichter sind als die schweren Stiefel, die ich sonst immer hatte. Die wartende Familie, der immer dürftiger markierte Weg, die Vermutung, dass der letzte Anspruch deutlich anspruchsvoller als erwartet wird. Und ich beschäftige mich damit, dass ich vielleicht umkehren sollte. Ich stelle mir vor, dass ich einen Text schreibe, der heißt „Vom Glück umzukehren“, davon, dass es auch schön sein kann, sein Ziel nicht zu erreichen und einfach die Zeit am Berg zu genießen.

Vom Glück umzukehren

Carsten Mey, bislang nicht erschienener Artikel

Ich bin also kurz davor aufzugeben. Vielleicht waren es die Gämsen, die mich zum Weitergehen gebracht haben? Auf der letzten Höhe vor der Scharte zum Gurpitscheck habe ich sie unten vor mir gesehen. Weit weg und trotz meines Versuchs mich anzuschleichen, haben sie mich entdeckt und sind davongesprungen.

Immerhin: statt mich weiter mit dem Umkehren zu beschäftigen, denke ich jetzt einfach Schritt für Schritt: erst runter in die Scharte, dann rüber zum Anstieg. Dann bis zur nächsten Ecke, schließlich taucht mal wieder eine rot-weiße Markierung auf und dient mir als nächstes Zwischenziel. Der Weg ist kaum noch zu erkennen, verliert sich in den Ausläufern von Schafs-Pfaden. Dann habe ich endlich das etwas steilere und minimal ausgesetzte Stück hinter mir gelassen und überwinde die letzten Höhenmeter bis zum Gipfel. Nach 2.20 Stunden bin ich oben und so froh darüber nicht umgekehrt zu sein, dass mich das fehlende Gipfelkreuz und der unerwartet unspektakuläre Grasrücken-Gipfel nicht weiter stören. Stattdessen genieße ich die Einsamkeit und die grandiose Sicht, für die ich auf dem letzten Abschnitt nicht viel Aufmerksamkeit übrig hatte. Der Ausblick zu den Nachbargipfeln ist jetzt fantastisch und die auflockernde Wolkendecke gibt den Blick auf die Höhen der Niederen Tauern frei.

Gipfelglück ohne Gipfelkreuz

Der Wind und mein zusammengeschmolzener Zeitpuffer treiben mich relativ rasch wieder vom Gipfel. Von oben ist die Wegführung zurück ganz logisch und wirkt wie so oft harmloser als von unten. Ich mache Tempo und halte mich nach dem kurzen Gegenanstieg hinter der Scharte zunächst weglos mittig auf dem Kamm. Jetzt habe ich Blut geleckt und will noch die unspektakulären Hügel auf dem Höhenzug mitnehmen. Deshalb gehe ich an der Abzweigung ins Tal vorbei, wandere also ab hier nicht den selben Rückweg, sondern bleibe auf der Höhe. Ich hoffe in rund 30 Minuten an der Samsonbahn zu sein, die heute Sommerbetrieb hat. Dabei kann ich noch zwei Gipfelkreuze „mitnehmen“.

Und um 9.20 Uhr ist es dann soweit. Kurz vorm Gipfelkreuz des Zechnerriegels treffe ich die ersten Menschen. Sie sind wohl mit dem ersten Sessellift des Tages aufgefahren und dann zügig losmarschiert. Ich bin so enttäuscht vom ausbleibenden Morgengruß, dass ich die nächsten Wanderer umso freundlicher begrüße.

Mittlerweile wird es immer belebter, so dass ich am zweiten Gipfelkreuz der Fanninghöhe nur ganz kurz verweile. Ursprünglich hatte ich es mir erhebend vorgestellt, als alpiner Abenteurer auf die frühen Normalwanderer zu treffen. Doch mit solchen Mengen hätte ich zur morgendlichen Stunde nicht gerechnet. Aber das Wetter hat sich mittlerweile stabilisiert und es scheint ein schöner Tag zu werden. Also gehe ich zügig weiter zum Lift. Während ich der einzige bin, der um 9.45 Uhr ins Tal fährt, ist jeder Sessel nach oben gut besetzt. An der Talstation wartet eine lange Menschen-Schlange. Ein Grund mehr, um nicht länger zu verweilen, sondern zur Familie zurück zu eilen.

Mein persönliches Fazit: Der Versuch, möglichst schnell nach oben zu gehen, hat durchaus seinen Reiz. Vielleicht macht es mehr Sinn, vorher eine klare Entscheidung zu treffen, ob Genuss oder eine große sportliche Herausforderung gesucht wird. Eine Mischung davon kann auch ihren Reiz haben. Richtiger Berggenuss ist für mich aber leichter möglich, wenn kein selbstgemachter oder fremdbestimmter Zeitdruck da ist.

Meine Wanderung war nicht die perfekte Tour. Doch das Glück, nicht aufgegeben zu haben, ist unbezahlbar.